Sternheim, (William Adolf) Carl, * 1. 4.
1878 Leipzig, 3. 11. 1942 Brüssel; Grabstätte:
ebd., Cimetière d'Ixelles.
- Dramatiker, Prosaist (Erzählungen, Romane, Zeitkritisches).
Mütterlicherseits stammte
S. aus einer protestantischen Buchdruckerfamilie, väterlicherseits aus
einer jüd. Bankiersfamilie.
Nach dem Abitur (Berlin 1897) studierte er in München, Göttingen,
Leipzig, Jena, Berlin, Freiburg i. Br. u. Heidelberg, u. a. Philosophie
(Erkenntnistheorie), Rechts- u. Staatswissenschaften u. Literatur- u.
Kunstgeschichte ohne Abschluß. Von großem Einfluß auf seine Literatur- u.
Kunsttheorie sowie auf die Darstellungsweise seiner Dramen waren der
Neu-Kantianer Rickert, der Kunsthistoriker
Wölfflin, die Literaturgeschichtler Köster u. Witkowski.
1900 heiratete S. Eugenie
Hauth u. ließ sich in Weimar als Schriftsteller
nieder. Nach der Scheidung 1906 heiratete er 1907 Thea Löwenstein, geb.
Bauer (* 25. 11. 1883 Neuss, 5. 7. 1971 Basel), die fortan seine
künstlerischen Arbeiten kritisch-fördernd begleitete u. mit ihrem
Vermögen der Familie eine großbürgerl. Existenz
ermöglichte. Das 1908 in Höllriegelskreuth bei München erbaute Haus »Bellemaison« wurde für einige Jahre zum
Künstlertreffpunkt (u. a. Frank Wedekind, Mechtilde
Lichnowsky u. Max Reinhardt). In dieser Zeit
begann S. mit dem Aufbau einer nennenswerten Kunstsammlung (u. a. van Gogh, Gauguin, Renoir, Matisse,
Picasso, Albrecht Altdorfers Kreuzigung). Nach der Scheidung der
zweiten Ehe 1927 war S. 1930-1934 mit Wedekinds
Tochter Pamela verheiratet. Seit 1930 wieder (wie schon mit
kriegsbedingten Unterbrechungen zwischen 1912 u. 1918) in Belgien wohnend, lebte S. seit 1935 mit
Henriette Carbonara zusammen.
Zusammen mit Franz Blei
gab S. 1908 den ersten Jahrgang der literarisch-künstlerischen
Zweimonatsschrift »Hyperion« heraus. Befreundet war er mit Hugo von
Tschudi, Fritz von Unruh, Walther Rathenau, Ernst Stadler u. Otto Vrieslander; mit Carl Einstein u. Gottfried Benn
plante er 1917 u. d. T. Enzyklopädie zum Abbruch bürgerlicher
Ideologie eine krit. Revue bourgeoiser
Herrschaftsformen. Seine Freundschaft mit Franz Pfemfert
brachte ihn zeitweise in die Nähe des Kreises um die Zeitschrift »Die
Aktion« u. damit in einen distanziert bleibenden Kontakt zum
Expressionismus. Das Preisgeld des Fontane-Preises, der S. 1915
zugesprochen wurde, gab er an den damals noch unbekannten Franz Kafka weiter, um auf ihn als einen
bedeutenden Erzähler aufmerksam zu machen. Seine Freundschaft mit den
Malern, Grafikern u. Holzschneidern Ottomar Starke, Franz Masereel u. Conrad
Felixmüller
schlug sich in Illustrationen seiner Werke nieder.
Augenfälligstes Moment in
S.s Schaffen ist die Zusammenfassung von Werken zu Zyklen, denen sich
später entstandene Texte jeweils zuordnen lassen. So stehen die Dramen
seit 1908 unter dem iron. Reihentitel Aus
dem bürgerlichen Heldenleben; die Erzählungen sind zusammengefaßt zur
Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn u. werden durch
den Anachronismus des Obertitels kritisch perspektiviert,
zeitkrit. Texte zentrieren sich um den Begriff
des »Juste milieu« (Berlin
oder Juste milieu.
Mchn. 1920. Tasso oder Kunst des Juste milieu. Bln. 1921).
Der deutlichste
Differenzpunkt zwischen den zum Frühwerk gerechneten Dramen u. dem sog.
Hauptwerk ist eine explizite, v. a. an Schopenhauer u. Nietzsche
geschulte Sprachreflexion, die S. in dem Imperativ Kampf der Metapher!
(Aufsatz gleichen Titels im »Berliner Tageblatt« 1917) bündig
formulierte; sprachkritische Implikationen beeinflussen durchgehend die dramat. Gestaltung eines zu Phrasen entstellten
Sprechens. Insbesondere die Konzeption der Figuren u. der Circulus vitiosus der
Handlungsabläufe zeigen S.s Intention, die sozialen Probleme auf ihre
Ursachen in einem falschen Bewußtsein zurückzuführen. Canettis Komödien
verarbeiten später Einflüsse der von S. entwickelten sprachkritischen
Dramaturgie.
Ausgangspunkt der Dramen Aus
dem bürgerlichen Heldenleben bilden die Komödien Die Hose (Bln. 1911), Die Kassette (Lpz.
1912) u. Bürger Schippel (ebd. 1913), in denen die Störung
bürgerlich-alltägl. Ordnung,
Erbschaftsangelegenheiten u. soziale Abgrenzungen zwar noch eine
komödiengerechte Lösung finden, diese aber zgl. das
»gute« Ende problematisiert u. damit den Anspruch der Gattung, die Lösung
des Konflikts sei seine Aufhebung, zerstört. Deutlich ausgestellte
familiäre u. soziale Verbindungen der Dramenfiguren gewinnen Bedeutung
erst dadurch, daß sie zu Erscheinungsweisen eines verhängnisvollen Sprachzusammenhangs
werden, dem keine Figur, auch nicht durch sozialen Aufstieg, zu entrinnen
vermag. In drei weiteren Dramen (Der Snob. Ebd. 1914. 1913.
Ebd. 1915. Das Fossil. Potsdam 1925), die die Geschichte der in Die
Hose eingeführten Familie des Theobald Maske entfalten, intensiviert
sich die dramat. Perspektive des »bürgerlichen
Heldenlebens« als eines Sprachkosmos u. damit als eines
Bewußtseinszusammenhangs. Mit dem Verzicht auf Artikel u. Adjektive sowie
durch seinen inversiven Sprachgestus (am
deutlichsten in den Umstellungen des Genitivattributs) versucht S., den
Blick auf jenes Konglomerat von Sprachklischees u. Phrasen freizulegen,
aus dem »des Bürgers betrügerisches Idiom« (Sternheim) besteht. Um diesen
Kern von sechs Dramen Aus dem bürgerlichen Heldenleben gruppieren
sich die späteren Stücke in unterschiedl. Nähe:
Der Kandidat (Lpz. 1914; nach Flaubert),
Das leidende Weib (ebd. 1915; nach Klinger), Tabula rasa
(ebd. 1916), Der Stänker (ebd. 1917. Urauff.
u. d. T. Perleberg. Ffm. 1917), Der
Nebbich (Mchn. 1922), Die Schule von
Uznach (Potsdam 1925), Oscar Wilde (Bln./Wien/Lpz. 1926) variieren jeweils Aspekte des
dargestellten Sprachkosmos, indem sie Probleme öffentlich-polit. Rede, des Nationalismus, der Pädagogik oder
des Individualismus thematisieren.
Von den 19 zwischen 1912
u. 1923 entstandenen Erzählungen faßte S. 14, die zuvor in Einzelausgaben
erschienen waren, in den Sammelbänden der Chronik zusammen. (In Mädchen
[Lpz. 1917] nahm er die von Thea Sternheim
verfaßte Erzählung Anna auf, die 1952 u. d. T. Sackgassen
zu einem Roman ausgebaut [Wiesb.] erschien.) 17
Erzählungen nennen im Titel den Namen der Hauptfigur oder einen sie
charakterisierenden Terminus: Konträr zu dieser Herausstellung der
Titelfigur scheint die Erzählhaltung zu sein, die sich vom Erzählten
wegwendet u. sich nachdrücklich auf das Erzählen selbst, d. h. die Sätze
des Textes, zu konzentrieren scheint, die nach dem Willen des Verfassers
»knappsten und klarsten Ausdruck« zu geben haben. Bemerkenswert auch hier
ist die Abbildung sozialer u. ideolog.
Verhältnisse als Konstruktion eines satir.
Sprachkontinuums, dessen Zusammenhang mit dem des Bürgerlichen
Heldenlebens evident ist. Eine Perspektive auf das gesellschaftl. Ganze entwirft S., ausgehend von
Einzelfiguren, in dem Roman Europa (2 Bde., Mchn.
1919/20), der nach seiner Heldin benannt ist, u. in der Autobiographie Vorkriegseuropa
im Gleichnis meines Lebens (Amsterd. 1936).
Nach großen
Theatererfolgen u. einer breiten Wirkung, die um 1930 deutlich nachließen
(nicht zuletzt, weil S.s physischer u. geistiger Verfall sich
beschleunigte; hinzu kam ein von den Nationalsozialisten schon 1932
angekündigtes, 1933 ausgesprochenes Verbot seiner Stücke), wurde S.
insbes. als Dramatiker nach dem Zweiten
Weltkrieg von der Wirkung des Brechtschen
Theaters verdrängt. Erst das von Wilhelm Emrich herausgegebene Gesamtwerk
u. die von Fritz Hofmann besorgten Gesammelten Werke sowie die
Inszenierungen Rudolf Noeltes in den 60er Jahren brachten S.
wieder in fruchtbare Auseinandersetzungen, die ihn als einen der
bedeutenden, die Möglichkeiten literar. Satire
entscheidend erweiternden Autoren des beginnenden 20. Jh. kenntlich machen.
& AUSGABEN: Gesamtwerk. Hg. Wilhelm Emrich unter Mitarbeit v. Manfred Linke.
Neuwied/Bln. 1963-76. - Ges. Werke in sechs Bdn. Hg. Fritz Hofmann. Bln./Weimar 1963-68. - Briefe. Hg.
Wolfgang Wendler. 2 Bde., Darmst. 1988.
& LITERATUR: Wilhelm Emrich: C. S.s
Kampf der Metapher! u. für die eigene Nüance. In: Ders.:
Geist u. Widergeist. Wahrheit u. Lüge in der Lit.
Ffm. 1965. - Hellmuth Karasek: C. S. Velbert
1965. - Wolfgang Wendler: C. S. Weltvorstellung u. Kunstprinzipien. Ffm./Bonn 1966. - Winfried Georg Sebald: C. S. Kritiker u.
Opfer der Wilhelmin. Ära. Stgt./Bln./Köln/Mainz 1969. - Rudolf Billetta:
S.-Kompendium. Wiesb. 1975. - W. Wendler (Hg.): C. S. Materialienbuch. Darmst./Neuwied
1980 (mit Bibliogr.). - Eckehard Czucka: Idiom
der Entstellung. Auffaltung des Satirischen in C. S.s Aus
dem bürgerl. Heldenleben. Münster 1982. - Bernhard Budde: Über die
Wahrheit u. über die Lüge des radikalen, antibürgerl.
Individualismus. Eine Studie zum erzählerischen u. essayistischen Werk C.
S.s. Ffm. 1983. - C. S. In: Text + Kritik, 1985 (mit Bibliogr.). - E. Czucka: Schimären des Tatsächlichen.
Die Maske-Tetralogie in C. S.s Aus dem bürgerl. Heldenleben.
In: Neoph. 72 (1988), S. 556-581.
Eckehard
Czucka
In:
Walter Killy (Hrsg.): Literaturlexikon. Autoren
und Werke deutscher Sprache. Bd. 11. München: Bertelsmann Lexikon Verlag
1991. S. 191-193.
Wieder
in: [Autoren- und Werklexikon: Sternheim, Carl, S. 1-8. Digitale Bibliothek Band 9: Killy
Literaturlexikon, S. 19987-19994 (vgl. Killy Bd. 11, S. 191-193)]
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